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Fortsetzung:
Wer braucht
eigentlich bis zu 750 Aufnahmen im Aufnahmeformat 18 x 24 mm auf
einem Film? Derjenige, der seine ganze Urlaubsreise
dokumentieren will ohne den Film zu wechseln, vorausgesetzt er
ist mit der bescheidenen Vergrößerungsfähigkeit der kleinen
Negative zufrieden - mehr als 6x9 cm war bei den damaligen
Filmen in erträglicher Qualität nicht zu erwarten. Und warum
wurde die Kamera nicht mit einem geringeren Fassungsvermögen,
dafür aber kleiner, konstruiert? Das erklärt sich wohl aus den
Vorstellungen der Konstrukteure und gilt ja nicht nur für die
Tourist Multiple, sondern auch für den Großteil der anderen
Modelle. Meiner Meinung machten sich die Konstrukteure geistig
nicht frei von der Vorstellung, sozusagen eine Filmkamera für
Einzelaufnahmen zu konstruieren. Das Aufnahmeformat 18 x 24 mm
und der Wunsch, primär Aufnahmen im Querformat (Landschaftsfotos
etc.) zu machen, legten einen vertikalen Filmverlauf nahe.
Daraus erklärt sich die für uns heute ungewohnte Anordnung der
Bedienungselemente und die daraus resultierende Form der Kamera.
Das war übrigens auch das Problem aller Halbformatkameras um
etwa 1970, die bei normaler Kamerahaltung, wie sie die Anordnung
der Bedienungselemente vorgab, Aufnahmen im Hochformat machten.
Nur bei ganz wenigen Kameras, etwa bei der
Konica AA-35,
wurde dieses Problem erkannt und gelöst, indem der Film vertikal
von der Filmpatrone zur Aufwickelspule transportiert wurde.
Da es um
1910 noch keine genormten oder handelsüblichen Filmpatronen gab,
mussten die Kameras in der Dunkelkammer ge- und entladen werden.
Aus diesem Grund war ein möglichst langer Film, der diesen
Wechsel auf Reisen nach Möglichkeit ersparte, sicher
vorteilhaft. Im Übrigen: so groß war die Tourist Multiple auch
wieder nicht. Jedenfalls war sie nicht größer als eine
zeitgenössische Klappkamera im Format 9 x 12 cm, die notwenigen
Glasplatten oder Planfilmhalter für einige wenige Aufnahmen gar
nicht mitgerechnet. Groß war sie allenfalls im Vergleich mit der
12 Jahre später erstmals lieferbaren LEICA für 36 Aufnahmen im
Format 24 x 36 mm. "Groß" ist auch heute noch im Kamerabau ein
relativer Begriff: wer eine Nikon F5, Contax N1, aber auch eine
LEICA M6 etc. neben eine LEICA I stellt, weiß, wovon ich rede.
Ab 1914 hat die Firma Multi-Speed in Morris Park auf Long Island
die wahrscheinlich erste Kamera für das Negativformat 24 x 36 mm
in vier Varianten erzeugt, die Simplex. Mit einem Film konnten
bis zu 400 Bilder im Format 24 x 26 mm oder aber wahlweise bis
zu 800 Aufnahmen im Halbformat gemacht werden. Im Aussehen
ähnelt die Simplex der Tourist Multiple; auch sie hat die einem
Ziegelstein ähnliche Form, nur wird der Ziegelstein waagrecht
gehalten. Die Produktionszahlen dürften sehr gering
geblieben sein, manche schließen auf Grund der Seriennummern
erhaltener Exemplare von nur 27 Stück. Andere wiederum
behaupten, die Kamera sei durchaus erfolgreich gewesen, so
erfolgreich, dass die Erzeugerfirma ihren Namen extra in The
Simplex Photo Product Company geändert habe.
Minigraph von Levy Roth, Berlin
Photo: ©
LEICAshop Wien
Von 1915 an erzeugte die Berliner Firma Levy Roth die Minigraph
(oder Minnigraph), eine Halbformatkamera mit einem
Fassungsvermögen für bis zu 50 Aufnahmen im Format 18 x 24 mm
auf einem Film. Diese erste deutsche Kamera für Kleinbildfilm
ähnelt im Aufbau der Tourist Multiple (mit Längsseite nach vorne
vertikal gehaltener Ziegelstein), verwendet jedoch spezielle
Filmkassetten, die außerhalb der Kamera geladen werden mussten.
Dank der kurzen Filme konnten die Filmkassetten und die Kamera
selbst klein gehalten werden. Mit Maßen von 133 x 30,2 x 55 war
sie die kleinste aller hier angeführten Vorläufer der LEICA.
Wahlweise war sie mit einem Anastigmat 3,5/54 mm oder einem
Meyer Trioplan 3,5/50 mm lieferbar. Einzige Belichtungszeit war
1/30 sec. Der Filmtransport war mit dem Verschlussaufzug
gekuppelt, eine Errungenschaft, die sich auch bei der LEICA von
Anfang an findet und auf die Oskar Barnack mächtig stolz war.
Auch Kodak versuchte sich mit einer Kamera für 35 mm breitem
Film, ging jedoch eigene (Irr-)Wege. Zwischen 1916 und 1922
lieferte die Firma die 00 Cartridge Premo - Kamera, die einen
unperforierten 35 mm breiten Film im extra neu geschaffenen
Format 35 verwendete, auf den sechs 32 x 44 mm große Aufnahmen
passten. Über die Kamera ist wenig zu sagen, sie war eine
einfache
Boxkamera,
der sogar ein eigentlicher Sucher fehlte. Kodak verfolgte den
mit der Schaffung des Filmformats 35 (erzeugt bis 1933)
eingeschlagenen Weg auch nicht weiter; als kleinstes akzeptables
Bildformat wurde das Format 40 x 65 mm angesehen, für das 1912
sogar eine eigene Filmkonfektion geschaffen wurde, der Rollfilm
im Format 127.
1918 ließ sich der Turiner Giovanni Battista Tartara eine
originelle Kamera für Kinofilm patentieren, die Autocinephot.
Dank Federwerkmotor und Malteserkreuz für den Filmtransport
ließen sich mit der Kamera dank einem Fassungsvermögen von 250
Aufnahmen im Format 18 x 24 mm auch Serienaufnahmen machen.
Indessen wurden nur sehr wenige Kameras tatsächlich erzeugt und
verkauft; die Patentrechte wurden schon bald an die Pariser
Firma André Debrie verkauft, welcher die leicht veränderte
Kamera zwischen 1923 und 1927 in zwei Varianten unter dem
Modellnamen Sept verkaufte. Die Sept war insofern eine recht
vielseitige Kamera, als sie neben Einzel- auch Serienaufnahmen
machen konnte; außerdem konnte man sie als Projektor und
als Vergrößerungsapparat verwenden
25 Aufnahmen im Format 24 x 36 mm konnte man mit der von E.
Guèrin & Cie in Paris zwischen 1923 und 1929 erzeugten Furet
machen. Der verwendete Kinofilm musste in spezielle Kassetten
eingefüllt werden, welche nur in diese Kamera passten. Wer die
Furet betrachtet, etwa auf der
Website des Georg Eastman House,
erkennt leicht die Vorzüge und die Schwächen der Kamera, die ja
mehr oder minder zeitgleich mit der LEICA I erzeugt wurde. In
der Form und Größe des Gehäuses, der Anordnung der
Bedienungselemente, in der Filmführung ähnelt sie trotz einer
gewissen Grobschlächtigkeit von allen Vorläufern am ehesten der
LEICA. Auch ihr ist kein Erfolg beschieden gewesen.
Letztlich ist auch die von E. Krauss, Paris, ab 1923 erzeugte
Eka zu erwähnen, die einen unperforierten 35 mm breiten Film
verwendet und Aufnahmen im Format 30 x 44 macht. Interessant ist
weniger die Kamera, als die Rolle, die ihr Name bei der
Benennung der neuen Kleinbildkamera von Leitz spielte.
Ursprünglich sollte die LEICA nämlich Leca heißen (LEitz
CAmera). So weit gediehen waren die Vorbereitungen, dass bereits
Prospektmaterial mit dieser Bezeichnung gedruckt war.
Rechtzeitig kam man darauf, dass "die Eka" auf französisch als
L´Eka ausgesprochen wird. So entschied man sich für LEICA als
Abkürzung von LEItz CAmera.
Insgesamt wurden bis zur Markteinführung der LEICA im Jahre 1925
laut van Hasbroeck, LEICA, Callwey-Verlag, etwa 25 verschiedene
Kamerakonstruktionen für die Verwendung von Kleinbildfilm
vorgestellt und mehr oder minder erfolgreich verkauft. Darunter
befinden sich außer den oben erwähnten auch teils abstruse
Konstruktionen wie etwa die von Walter Talbot,
Berlin, in einer Auflage von
einem Stück erzeugte "Unsichtbare Kamera", eine am Hosengürtel
zu befestigende Detektivkamera für 15 oder 30 Aufnahmen auf
Kinofilm im Format 24 x 36 mm. Einen recht guten Überblick
findet man auch auf der nicht ganz fehlerfreien
Website von Corsopolaris.
Und weil ich Wiener bin,
nicht zu vergessen die von der OTAG in Wien 1925 angeboterne
Amourette für unperforiertem Kleinbildfilm (Bildformat 31x33
mm), die fast quadratische Bilder im Hochformat lieferte und mit
speziellen Kassetten geladen werden müsste.

Amourette,
1925
Photo: ©
LEICASHOP Wien
Ob und wenn ja welche dieser Konstruktionen Oskar Barnack in
Einzelnen bei der Konstruktion der LEICA gekannt hat, ist
mangels einschlägiger Quellen nicht sicher feststellbar. Sicher
ist, dass er sich 1931 in der von Curt Emmermann herausgegebenen
Zeitschrift "Die LEICA" kritisch mit den Vorläufern
auseinandersetzt und dabei ausdrücklich auch die Minigraph von
Levy Roth mit den Worten anführt, sie sei "wegen des
Aufnahmeformats 18 x 24 mm und der allzu großen Abmessungen
nicht lebensfähig" gewesen. Da dürfte der Meister sich
allerdings geirrt haben, denn die Minigraph war nicht viel
größer als die LEICA I mit Anastigmat, Elmax oder Elmar.
Übrigens berichtet ein Kollege Barnacks bei Zeiss, Carl Hermann,
Barnack habe von der Minigraph seit 1906 oder 1907 gewusst;
Hermann ist sicher, dass Barnack durch die Minigraph angeregt
wurde, sich mit dem Bau einer kleinen Filmkamera für Normalfilm
mit etwas größerem Format zu befassen.
Am Ende bleibt die Frage, warum sich alle diese älteren
Konstruktionen nicht durchsetzten und tatsächlich die LEICA I ab
1925 die erste erfolgreich produzierte und vermarktete
Kleinbildkamera gewesen ist.
Ich denke, dafür gibt es eine Reihe von Gründen.
Erstens wurden zwischen 1913 (Tourist Multiple) und 1925 (LEICA)
beträchtliche Fortschritte bei der Herstellung feinkörnigerer
Filme gemacht, die ja Voraussetzung für die Herstellung von
Vergrößerungen bis 10 x15 cm in akzeptabler Qualität waren, wie
das der Firma Leitz bei Markteinführung der LEICA vorschwebte.
Zweitens lieferten die meisten Vorläufertypen Negative im Ausmaß
von 18 x24 mm, die entsprechend vergrößert werden mussten und
sich dann als grobkörnig und zu unscharf erwiesen. Deshalb ging
Oskar Barnack bei seiner Kamera von vornherein von einem Format
24 x 36 mm aus (ursprünglich sogar von 24 x 38 mm).
Drittens waren fast alle Kameras (ausgenommen z. B. die
Minigraph) nicht kleiner als geschlossene Klappkameras mit viel
größeren Platten- oder Filmformaten, die qualitativ bessere
Abzüge ermöglichten. Zudem waren diese Klappkameras großteils
auch noch billiger. Auch war es bis weit in die 30er Jahre
üblich, die Negative im Maßstab 1 : 1 zu kopieren und nicht zu
vergrößern; das war technisch bedingt, erklärt aber auch die
vielen damals üblichen verschiedenen Rollfilmformate.
Viertens boten die meisten dieser Apparate dem Amateur weit
weniger Möglichkeiten als die - später auf den Markt gebrachte -
LEICA.
Fünftens lief auch die Produktion der LEICA nur recht schleppend
an und der wirkliche Erfolg der Kamera beginnt erst mit der
Möglichkeit, Wechselobjektive zu verwenden und vor allem mit der
LEICA II mit gekuppeltem Entfernungsmesser.
Sechstens etc. lassen sich im Nachhinein natürlich tausend
Gründe aufzählen, warum ein Produkt erfolgreich gewesen ist. Ich
denke, die LEICA war die erste Kamera, in der die 1925 gegebenen
Möglichkeiten zu einem eigenständigen neuen Produkt
zusammengefasst waren. Mehr noch, die LEICA ist nicht nur ein
letztlich x-beliebiges Produkt gewesen, sondern ein Produkt, an
dessen technische Verwirklichung ein Mensch Jahrzehnte lang
geglaubt und an dessen Vervollkommnung er sein ganzes restliches
Leben gearbeitet hat. In der LEICA paarte sich die Leistung
eines begnadeten Tüftlers mit der Voraussicht eines Kaufmanns,
Ernst Leitz II., der die wirtschaftlichen Möglichkeiten der
Diversifikation seines Unternehmens durch ein neuartiges Produkt
erkannt und genützt hat.
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